Nina May, Das gibt’s doch gar nicht! Die Walachei ist nicht im Nirgendwo, sondern mitten unter uns. Glossen, erste Staffel. Reihe Fragmentarium, Bd. 30 · ISBN 978-3-86356-405-6, 372 Seiten, €[D]24,90
„Wo bleiben deine Glossen?“, lautete der Begrüßungssatz meiner Mutter. „Hast lange nichts geschrieben!“ Kein „Gut schaust aus!“, kein „Wie läuft’s mit dem Hausbau?“ oder „Esst ihr auch Vitamine?“. Statt-
dessen will auch sie jede Woche lesen, wie man in welchem Kulturkreis Bananen schält oder was mein Ameisenhaufen in der Küche so treibt. Die wirklich wichtigen Dinge eben. Die, die man Verwandten und Freunden weitermailt und an die sich, zugegeben, auch die Leser stets erinnern, denen man auf Sachsentreffen und Überlandreisen begegnet: „Ach, Sie sind Nina May? Die Story mit dem erwürgten Zeh in der Damenstrumpfhose – wir haben uns totgelacht!“ Distanz.
Nina May
Wussten Sie schon, dass Sie mit „Țăraning “ kräftig, gesund und beweglich bleiben, ohne ein Fitnessstudio zu besuchen (Auf ins Sportstudio!)? Dass es fast einem Schicksalsschlag gleichkommt, wenn der Mechaniker mitten im siebenbürgischen Outback „etwas Großes“ am kaputten Auto diagnostiziert und sich auf das Eigentliche nicht näher festlegen will (Glück und Pech)? Dass ihnen gelegentlich der „Wohnwagen“ aus der Hosentasche fallen kann, wenn Sie die Sünde eines Vokalverdrehers begehen? Rulotă versus ruletă in Der Wohnwagen aus der Hose. Wussten sie, wie eine Reparatur trotz allem gelingt, wenn drei Handwerker ohne Werkzeug und Leiter, aber fest in den Hosentaschen versenkten Händen anrücken, um nach längerem Diasgnosepalaver einen größeren Schaden zu beheben (Mangelgesellschaft)? Und welche uralten Sammler- und Jägerinstinkte man auspacken muss, um am übervollen Büffet nicht zu verhungern (Milieustudien am Büffet)?
Das alles und sehr, sehr viel mehr ist in Nina Mays Glossensammlung aus dem Pop Verlag nachzulesen. Von der humorvoll-ironischen Erzählhaltung her ist es – entfernt – eine Art Gregor von Rezzori’sches „Maghrebinien“, aber weder Land noch Leute entspringen der überbordenden Phantasie, sondern die „Wallachei“ Nina Mays ist Realität, die jeglichem Faktencheck standhält: Sie ist geographische Wirklichkeit und mental-kulturell bedingte Verhaltensrealität in einem — angesiedelt im Zentrum des heutigen neuen Europa an seiner aufstrebenden Peripherie Rumänien.
Glossen sind eine journalistische Disziplin der Meinungsäußerung. Nina May äußert ihre Meinung zu den vielfältigsten Alltagsthemen. Sie kommentiert die Tücken der vermeintlich stabilen Normalität, die aber einer näheren Prüfung nicht standhalten kann. Sie entdeckt Neues, wo alt Eingefahrenes scheinbar unverrückbar ist. Sie öffnet den Blick für manch Eigenartiges (Stempelsucht, Klopapier, …) , aber auch für die unscheinbaren Details des Lebens, die indessen bei näherer Betrachtung zu einer essenziellen Lebensäußerung mutieren können: beispielsweise die Geburt einer fingerkuppengroßen Wasserschildkröte.
In neun Kapiteln sieht man durch Nina Mays Kommentar-Brennglas Fazetten der Wirklichkeit, die man bisher entweder nicht kannte oder die man übersehen oder gar falsch verstanden hat: Hurra – in Rumänien!, Kulturelle Kollisionen, Trautes Heim, Kuriose Arbeitswelt, Alltagswahnsinn, Alles, was recht ist, Sprachverwirrnisse, Über Stock und Stein, Geliebte Technik
Die Beschreibungsakuratesse einer Physikerin, die Parlandoakkrobatik einer im besten Sinne erfrischend deutsche Autorin, die dennoch in Rumänien lebt und die dortigen Realitäten in deutscher Sprache beschreibt. Die unverformte Neugier eines geistig jung gebliebenen Menschen, die Wohlgesonneheit einer durch und durch positiv eingestellten Autorin. Nina May bekennt sich dazu: „Wer schreibt über solche Dinge? Das ist meine Nische! Die schillernde Buntheit des Lebens in Rumänien schildern, so, wie ich sie erlebe. Mal bewundernd, mal kritisierend, mal staunend, mal verblüfft. Aber immer zutiefst ehrlich – und mit einem liebevollen Augenzwinkern im Hintergrund.“
Für die sogenannte rumäniendeutsche Literatur ist sie sehr wohl eine Bereicherung geworden. Erstens: durch den unverstellten Blick auf sattsam bekannte Realitäten an einer mitteleuropäischen Schnittstelle zum Balkan, die von rumäniendeutschen Natives noch nie so burlesk-pikaresk, kumorvoll-ironisch wahrgenommen worden ist. Zweitens: durch das erfrischend-sprühende Parlando eines deutschen Binnensprachlers, der sich innovativ und bemerkenswert vom zwar überaus korrekten, aber oftmals gestanzten und inselreduzierten Deutsch des rumäniendeutschen Literaturkanons abhebt. Insofern ist auch die Frage beantwortet, ob Nina May zur rumäniendeutschen Literatur zu zählen ist: Ja, sie ist es zweifellos, denn ihre Glossen transzendieren die rein journalistischen Beschränktheiten und ragen deutlich in die Ebene der literarischen Wirklichkeitsbewältigung hinein.
Warum Lebenshilfeseminare aufsuchen, Persönlichkeitscoaching frequntieren oder seichte Texte zur seelischen Betreuung lesen ? In Nina Mays Glossen finden Sie alles: Zuspruch, Orientierung, Bestätigung, Witz und Verstand. Das Buch liest sich wie ein Instrumentenkasten dessen, wie im Leben Wichtiges von Unwichtigem zu trennen ist, wie tiefe Menschlichkeit auf- und Egomanie und Fremdheit abgebaut werden können, wie das Eigentliche vom Uneigentlichen zu scheiden ist.
Wer ohnehin Spaß am Lesen hat, aber auch derjenige, der diese kultivierte Lebensfreude (neu) entdecken will, kommt mit diesem Buch voll auf seine Kosten.
Lieferbare Titel von Nina May:
- Das gibt’s doch gar nicht! Die Walachei ist nicht im Nirgendwo, sondern mitten unter uns. Glossen, erste Staffel. Reihe Fragmentarium, Bd. 30 · ISBN 978-3-86356-405-6, 372 Seiten, €[D]24,90