Dagmar Dusil(Hrsg.), Im Schnee der Erinnerungen. Hermannstadt: dokumentiert · erinnert · recherchiert

Dagmar Dusil (Hrsg.), Im Schnee der Erinnerungen. Hermannstadt: dokumentiert · erinnert · recherchiert. Reihe Fragmentarium, Bd. 29 · ISBN 978-3-86356-407-0, 444 Seiten, €[D]29,90

| Astrid Bartel | Dagmar Dusil | Theodora Eck | Martin Eichler | Anneli Ute Gabanyi | Louis Guermond | Jürgen Günster | Sigrid Haldenwang | Hannes Höchsmann | Herbert Horedt | Marianne Hügel | Emil Hurezeanu | Ioan-Cosmin Ignat | Konrad Klein |  Wolfgang (Wolfi) Klein | Gerhard Konnerth | Paul Niedermaier | Jürgen Schlezack | Anneliese Schuster | Ernst Gerhard Seidner | Hans Günther Seiwerth | Gert Theil | Beatrice Ungar | Joachim Wittstock | Helmut Wolff | Volker Wollmann | Monika Ziegler | Kurt Thomas Ziegler |

Das Erinnern hat seine eigenen Regeln, geht selektiv vor. Daher auch der Titel des vorliegenden Bandes: Im Schnee der Erinnerungen. Was verbinden wir mit Schnee? Reinheit, Wünsche, Erinnerungen, Kindheit. Doch Schnee hält nicht ewig, er schmilzt und taut, ist nicht mehr da, verändert seinen Aggregatzustand. Verhält es sich nicht auch mit ver- schütteten Erinnerungen so? Wie werden sie freigesetzt? Wann stürmen sie auf uns ein, wann nicht?
Es ist ein lebendiger Sammelband entstanden, der eine gewisse Eigen- dynamik entwickelt hat und den Blick hinter die Kulissen in die Ver- gangenheit der Protagonistin „Hermannstadt“ lenkt. Die Stadt – das ist unser weibliches Hermannstadt – ist das Bild einer Grande Dame, die bezaubert und nostalgisch stimmt. Das Stadtbild – ist vergänglichkeits- resistent neutral und hält den Besucher oder ehemaligen Bewohner auf Distanz. Der Stadtkern – die männliche Seite Hermannstadts ist uneinnehmbar, wehrhaft jeden Zentimeter verteidigend.

Die Industriegründungen erfolgten bei den Sachsen nicht – wie im übrigen Siebenbürgen – auf Initiative der Wiener und Budapester Hochfinanz, sondern sie resultierten oft aus kleineren und mittleren gewerblichen Betrieben. Diesen Sachverhalt verdeutlicht eine Statistik aus dem Jahr 1933, laut der von 124 sächsischen Unternehmen Siebenbürgens nur eines mehr als 1.000 Arbeiter beschäftigte, 17 lagen zwischen 100 und 1.000 und die übrigen unter 100 Beschäftigten. (Volker Wollmann – Dokumentiert)

Ich hatte ganz andere Probleme. Nach meiner Militärzeit wusste ich nicht so genau wohin mit meinem Leben. Die ganze Nachbarschaft wollte mir helfen. Dieter Göllner versuchte, mich beim Radio unterzubringen. Nae Ionescu, der Jazzgott Hermannstadts und unser Nachbar, wollte aus mir einen Sänger machen und Herr Lala aus der Voltairestraße einen Buchhalter. So wurde ich Buchhalter auf der Hohen Rinne im Hotel Casa Turiştilor. (Wolfi Klein – Erinnert)

Die einst im Sommer mit betörend duftenden Lindenbäumen bestandene Arzstraße, die von der Leschkircherstraße/str. Ștefan cel Mare bis zur Michaelisstraße/str. Călţun reicht, ist mit 516 Metern nicht die längste, aber die wohl schönste im Viertel. Einige der gediegenen, in einem lokalen Heimatschutzstil erbauten Einfamilienhäuser besitzen auch Mansarden. (Konrad Klein – Recherchiert)

Lieferbare Titel von Dagmar Dusil:

Dagmar Dusil,  Das Geheimnis der stummen Klänge

Dagmar DusilDas Geheimnis der stummen Klänge. Roman. Reihe Epik . Bd. 149, 220 Seiten,  ISBN 978-3-86356-394-3; €[D]21,00

Dagmar Dusil fängt in ihrem neuen Roman Das Geheimnis der stummen Klänge  die abgrundtiefe Verworfenheit osteuropäischer Zeitumstände in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein.

Clara, die zur Adoption freigegebene ungewollte Tochter der Starpianistin Lavinia, entwickelt sich auch zu einer vielversprechenden Klavierspielerin.  Von einer erbarmungslosen Inszenierung der gefürchteten rumänischen Geheimpolizei Securitate wird sie als Fünfzehnjährige bei einem Talentwettbewerb zutiefst verletzt und zunächst vom sicher geglaubten Weg der musikalischen Selbstverwirklichung abgebracht. Sie wird Ärztin, arbeitet aber trotz ihrer tiefen Enttäuschung im Stillen weiterhin an der Vervollkommnung ihres Klavierspiels.

Im furiosen Finale  treffen Tochter und Mutter, deren Lebenswege sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht gekreuzt haben, nach vielen Jahren in einem an Dramatik nicht zu überbietenden Showdown erstmals aufeinander.

„Aus dem Malpapier ihrer Mutter, dass sie Blatt für Blatt wie ein Gauner entwendete, nachdem sie feststellen musste, dass es kein Papier zu kaufen gab, fertigte sie zunächst die weißen Tasten an, denen die mit Mutters Ölfarbe überstrichenen schwarzen folgten. Anfangs war es ein ungewohntes Gefühl, die Finger über den harten Unter- grund gleiten zu lassen, während der Flügel verwaist im Zimmer stand. Wie eine Diebin näher­te sich Clara ihm, wenn sie alleine in der Wohnung war, berührte in einem piano pianissimo die Tasten, um sofort die Hand zurückzuziehen. Es kam ihr wie ein großer Verrat vor, ein Verrat an ihr selbst, an ihren Ansprüchen, an ihren mit Füßen getretenen Leistungen. Sie quälte sich selbst und glaubte, nur so das Leben ertragen zu können. In der Stummheit des Papier­klaviers spuckten die angeschlagenen Tasten Töne aus, die nur sie hörte, von denen nur sie wusste, und die Schwin- gungen erreichten den Ort in ihrem Körper, den einige Menschen Seele nennen.“

„… meine Schneeträume, so weiß, so sehr herbeigesehnt, so vergänglich“ – es sind die Lebensträume Claras, die sie am Ende atemberaubender Entwicklungen gegen große Widerstände zumindest teilweise verwirklicht hat. Die Ärztin, die eigentlich eine virtuose Klavierspielerin werden wollte, trifft im Romanfinale zum ersten Mal auf ihre leibliche Mutter, eine berühmte Pianistin – es kommt zu einem Showdown, der an Dramatik nicht zu überbieten ist.

Dagmar Dusil erzählt mal beklemmend und eindringlich, mal poetisch verstörend und filmisch sequenziert, aber allemal subtil und detailreich in der Linienführung. Leserinnen und Leser können sich in dieser spannenden Schilderung einer Selbstbefreiung sowohl an unbeschwerten Dur- als auch an traurigen Moll-Erzähl-Akkorden erfreuen.

Lieferbare Titel von Dagmar Dusil

Ilse Hehn: Diese Tage ohne Datum

Ilse HehnDiese Tage ohne Datum. Mit 45 bildnerischen Arbeiten der Autorin.Reihe Fragmentarium Bd. 27. 320 Seiten, ISBN 978-3-86356-353-0, €[D]23,00

Anstelle eines Vorworts: Eine Sprache aus Überzeugung, Nähe und Anmut

Das kennen wir: Die Corona-Pandemie zeigt erschreckend, statt sich herzlich und liebevoll zu umarmen, streckt man seine Faust aus, seine Ellenbogen und tritt einander fast vors Schienbein. Nehmen wir auch noch die Maske hinzu, sind wir … auf Abstand? Einander fremd geworden? Vereinsamt?
Wie erfreulich, wenn ein Buch seine Arme ausbreitet, die Maske abnimmt, keine Berührung scheut, sich dir nähert und ein echtes Angebot zur Aufnahme einer Beziehung ist.
Wovon rede ich? Von Ilse Hehns jüngstem Buch: „Diese Tage ohne Datum“. Es neigt sich uns entgegen, möchte angenommen, in seiner Bildsprache verstanden und in gewisser Weise auch genossen werden. Doch das alles geht nicht hektisch. Es brauchte seine Zeit. Lebenszeit, Erfahrungszeit, Wahrnehmungszeit. Und es braucht unsere Lust und Bereitschaft, Worte und Bilder zu wägen, so dass sie in unserem Inneren Gestalt annehmen.

Was bewegt diese bewegende Autorin dazu, uns in Lappland auf einen Hundeschlitten zu stellen und uns tagelang und abhängig von Tier und Natur durch die weite, eingefrorene Landschaft zu führen? Die sprachsatten Bilder lassen es erahnen: es geht darum, eine innere Heimat zu entdecken, ein Gefühl von Geborgensein in einer Natur, die nicht feindlich ist.
Ob die Bretagne ein heimeliger Ort? Ist sie nicht auch schroff, bedrohlich, menschenfeindlich? Nein, wenn man nicht nur allein unterwegs ist, und manchmal scheint es durch, dass Ilse Hehn nicht alleine reist. Ob die Autorin nun mit kulturhistorische Anmerkungen, in eine bildhafte Sprache eingetaucht, metaphorisch überhöht und mit kraftvollen Synästhesien bekleidet, sich uns herausfordernd nähert – wir sind eingeladen, intellektuell und emotional an dieser Reise durch Frankreich teilzuhaben.
Nach einem wunderbar zynischem Capri-Intermezzo und einem Spaziergang durch das bunte, tolerante Amsterdam reisen wir nach Schottland.
Kommt man dann dort im Zeichen der Distel und beim Klang der Bagpipes, mit dem passenden Getränk in der Hand und umwoben von Geschichte und Geschichten, zu einer entspannten Gelassenheit, einem Atemhauch von Genuss? Ja, man kommt. Auch als Leser.
Aufpassen! In Florenz – sachlich kommentiert die Autorin die Stadt als „ein Sarg aus pietra dura“, Pathos und pietätvolle Kniefälle sind nicht das Ihre – werden wir davor gewarnt, „Dantes verzinkter Lorbeer“ uns nicht auf den Kopf fallen zu lassen.
Und ach, Ägypten. Hier hat Ilse Hehn wahrlich ihr Herz an Geschichte und Architektur, an Götterwelt und Menschenelend verloren. So viele Worte und keines zu viel. Jedes gefüllt mit Bild und Vorstellung, mit Kommentar und Anmerkung. Ein Bekenntnis!
Ein literarisches Fundstück sind die Texte der Autorin über ihre ehemalige Heimat Rumänien. Textminiaturen von großer poetischer Kraft und eigenwillige Collagen vermitteln ein nuancenreiches Bild des postkommunistischen Rumänien. Hinter dem schönen Schein eines „neuen Frühlings“ wird die Ratlosigkeit und Enttäuschung angesichts der nicht eingelösten Erwartungen der 1989 von der kommunistischen Diktatur befreiten Menschen spürbar.
Umarmen wir Sizilien, jenes geschichtsträchtige Eiland, um uns bald darauf, über Norwegen und Samos, am Bodensee auszuruhen, Annette von Droste Hülshoff vorurteilsfrei zu begegnen, und gleichsam Kraft zu tanken für zwei weitere große Schritte. Einer führt uns zur ewigen Stadt, der Roma aeterna, deren Flair wir erliegen, die Sinne leibhaftig und lebhaft gesättigt. Und ja, die „bocca della verita“ wartet auf die Autorin, um das, was sie uns anbietet, auf Authentizität und sprachliche Überzeugungskraft zu prüfen. Ergebnis: Alles gut! Was heißt, das steinerne Ungeheuer beißt nicht zu.
Schließlich wartet Venedig auf uns. Wir kommen behutsam dieser rätselhaft schönen Stadt nahe. So wie die Autorin auch uns nahegekommen ist. Keine erzwungene Distanz sondern glaubhafte Nähe, keine Oberlehrer-Belehrungen, sondern kenntnisreiche Impulse. Keine Maske, wohl aber eine Sprache aus Überzeugung, Nähe und Anmut.

So gelingen Begegnungen, ja Berührungen in einer Zeit der Entfremdung. Man ist eingeladen, sich dem Horizont einer weit gereisten Autorin zu nähern.
Das ist ein Buch für unsere Zeit der Distanz, der Masken und der erzwungenen Berührungslosigkeit.
Lassen Sie sich berühren! Es tut gut.

Ulrich Steenberg, Januar 2022

 

Diese Tage ohne Datum – ein Gesamtkunstwerk, das die Vielfalt von Reiseerfahrungen in all ihren sinnlichen, gedanklichen und ästhetischen Facetten erfasst, und in welchem kongenial die bildende und die Sprachkünstlerin Ilse Hehn zu Wort kommt.
Was bei der aufmerksamen Lektüre auffällt, ist die stilistische Vielfalt der Texte, von Impressionen (Frankreich) über handfeste, geradezu spannende Handlung (Lappland), sprachlich unwahrscheinlich ausgefeilten wunderschönen Bildern vom Bodensee, Mont St. Michel, Venedig, Amsterdam (in seiner Knappheit ein kleines Kabinettstück), Capri (wunderbar die ironische Brechung im gesamten Kapitel) bis zu richtigen kleinen kulturhistorischen Exkursen (Ägypten, Rom, Schottland) und immer wieder dazwischen eingestreute lyrische Produkte. (Herbert Bockel)

Kritikerstimmen
Das jüngste Buch der Autorin Ilse Hehn ist ein eigenwilliges poetisches Reisetagebuch. Die Autorin reflektiert in Gedichten und Prosa feinsinnig die unterschwelligen Eigenheiten von Landschaften und Städten und stellt sie in den Zusammenhang der persönlichen Erlebnis- und Erfahrungswelt. Von besonderem Reiz sind die Rückblenden auf den südosteuropäischen Raum und die Jahre des Sozialismus, der Blick auf das heutige postkommunistische Rumänien sowie die Erlebnisfrische, mit der sie zu reisen und zu schildern versteht.
In die Texte beigestreut sind zahlreiche bildnerische Arbeiten von Ilse Hehn, die dem Buch einen zusätzlichen künstlerischen Reiz verleihen. (Ihre Windrose hat Wurzeln im Südosten, Franz Heinz)

Stilles Aufnehmen von Welt
Nicht die exotische Ferne fremder Kontinente lockt Ilse Hehn. Ihre Eindrücke, in Notaten festgehalten, die ein Mosaik bilden, sammelt die Reisende in den Schneeweiten Lapplands, in farbenflirrenden mediterranen Räumen, im Rom der Kirchen, Künste und Kontraste, in der archaisch-herben Landschaft der Bretagne, auf der griechischen Insel Samos, in Ägypten oder auch im sagen- und geschichtsträchtigen Schottland. Ihre in Prosa gefassten Impressionen finden sich, gestalterisch umgewan-
delt, oft auch in Gedichten wieder, die, eine Erfahrung, ein Erlebnis betonend, zum mitbestimmenden Teil des Textgefüges werden. Und sie finden sich wieder in den durch ihre Farbakzentuierung und Linienführung suggestiven Bildern der Künstlerin Ilse Hehn, die mit der Dichterin gemeinsam unterwegs war. (Eduard Schneider)

Lieferbare Titel von Ilse Hehn:

  • Anneliese Merkel:Käme ein Wort. Gedichte. Mit vier Arbeiten vonIlse Hehn.Pop Lyrik. ISBN: 978-3-86356-161-1, 72 Seiten, 14,50€
  • Roms Flair in flagranti. Epikreihe Bd. 109.142 Seiten, ISBN 978-3-86356-284-7, €[D]19,90
  • Diese Tage ohne Datum. Mit 45 bildnerischen Arbeiten der Autorin.Reihe Fragmentarium Bd. 27, 320 Seiten, ISBN 978-3-86356-353-0, €[D]23,00