Emilian Galaicu-Păun, Lebendiges Gewebe

Emilian Galaicu-Păun, Lebendiges Gewebe. 10 x 10. Roman. Aus dem Rumänischen übertragen von Georg Aescht. Ludwigsburg: Pop · 2025. 
Reihe Epik, Bd. 157, ISBN 978-3-86356-440-7, 475 S., €[D]33,00

Von einer Schnittstelle all der Klüfte, die Europa und die Welt auch heute furchen, handelt dieses Buch. Ein rumänischer Autor aus der zwischen Russland und den NATO-Staaten gebeutelten Republik Moldau erzählt von einer Kindheit in der Sowjetunion und einer Jugend, die mit der Jugend seines von der Sowjetunion befreiten Landes hätte zusammenfallen sollen. Dabei stellen sich die persönlichen und politischen „Befreiungen“ als allenfalls notdürftig heraus. Die Geschichte greift herein in die Gegenwart, nichts ist ausgestanden – man muss weitererzählen in der Hoffnung, dass man sie, die Geschichte und das eigene Leben, in den Griff bekommt. 

Der Roman Ţesut viu. 10 x 10 – Lebendiges Gewebe. 10 x 10 folgt dem Muster der Zehn Gebote (Dekalog) – jedes Kapitel entspricht einem Gebot –, ist jedoch auch eine postmoderne Replik auf das Decamerone und spielt in einem geschichtlichen Zeitraum von 40 Jahren (vom Tod des ersten Kosmonauten Juri Gagarin am 31. März 1968 bis zum 7. April 2009, dem Tag der sogenannten Twitter-Revolution in der Republik Moldau) sowie auf mehreren Kontinenten (Europa, Asien, Afrika), wobei es nicht vordergründig um die geopolitischen Umbrüche geht, sondern um den Bruch zwischen der „ersten schuhbewehrten Generation“ (den zur Zeit des Stalinismus ausgebildeten Eltern) und den Kindern der „Perestroika“.

Zehn Einzelgeschichten werden miteinander verflochten wie in Italo Calvinos Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht und spiegeln das kollektive Drama der Bessarabier am Beispiel einer Familie, deren Name – Băjenaru (rumänisch: Flüchtling) – mit schicksalhafter Vorbedeutung avant la lettre aufgeladen ist und die zugleich die autoritäre Gesellschaft der UdSSR im Kleinen verkörpert. Das Erdbeben von 1977, die Große Nationalversammlung von 1989, der Dnjestr-Krieg von 1992, die Verwüstung des Parlaments- & des Präsidentensitzes in Ch-ău, République de Mal de Vie, am 7. April 2009, aber auch die Deportationen & die von Staats wegen herbeigeführte Hungersnot der 40-er Jahre sind der historische Hintergrund für die Schlüsselerlebnisse der Hauptgestalt  …n (im Unterschied zu anderen Abkürzungen der Weltliteratur auf den Anfangs- wird der Name der Gestalt auf den Endbuchstaben mit Auslassungszeichen verkürzt zum Zeichen der Erniedrigung, die ihm in der Gesellschaft widerfährt): der erste Schultag (an dem das „Kind seiner Eltern“ sich mit einem Mal zum „Enkel von Iljitsch“ verwandelt sieht); die erste Studentenliebe, in die ein KGB-Offizier gnadenlos eingreift; die (dokumentarisch belegte!) Schreckensgeschichte eines rumänischen Offiziers, der, in einem bessarabischen Dorf der 30-er Jahre stationiert, der Schwarzen Magie anheimfällt; der böse Streich, den eine Postangestellte verliebten jungen Leuten unfreiwillig spielt, wobei ein zufällig gefallenes & und falsch gedeutetes Wort zu einer wahren Familientragödie führt (ähnlich wie im Scherz oder dem Buch vom Lachen und Vergessen von Milan Kundera); die Begegnung (die ein Leben hätte verändern können, wenn man es zugelassen hätte) einer adelsstämmigen jungen Frau mit dem großen Sänger Fjodor Schaljapin in Chişinău vor der Wende zum 20. Jahrhundert, geschildert aus der Perspektive einer Achtzigjährigen, die sich den Mangel an Entschlusskraft von einst nicht verzeihen kann; das Treffen mit einer Kriegsveteranin, die während der großen stalinistischen Säuberungen in Moskau in die Falle eines selbstgebauten Labyrinths und schließlich als politische Gefangene in den Gulag gerät, wo sie die ehemalige Ehefrau von Molotow, die strahlende Polina Schemtschuschina, kennenlernt; nicht zuletzt ein Kriegsgericht, das zur Zeit des bewaffneten Konflikts am Dnjestr seiner Tätigkeit nachgeht, usw. usf.

In postmoderner Manier geht es in dem Roman über etliche Etagen treppauf, treppab wie in einem Stich von Escher, dahinter steht der Grundgedanke, dass die Welten – oben/unten, diese/jene, parallel/verwoben, real/virtuell usw. – untereinander kommunizieren. Jenseits der rein formalen Eigenheiten – von der Einklammerung bestimmter Teile der Erzählung nach dem Matrjoschka-Prinzip (siehe Kap. 6. S(…)T) über deren Umkehrung (siehe Kap. 3 ff. Milarepa Air Lines) oder die Einfügung geschwärzter Seiten mit dem Gedicht „Die Lettern lagen nicht in seiner Macht“ (siehe Kenotaph) als „Negativ“ bis zu einer (gleich auf der ersten Seite von Summary [dressed]) eingerückten poetischen „Nische“ – kommt dieser Darstellungsweise eine besondere Rolle zu: sie strukturiert die Erzählebenen und -einstellungen dergestalt, dass der Roman gewissermaßen zu einem KunstHaus Wien à la Ch-ău wird (was den großen Prosaschriftsteller Alexandru Vlad dazu bewogen hat, ihn als „literarisches Origami, gleichsam ein Hüpfspiel wie Cortázars Rayuela“ zu bezeichnen).

Dies ist (auch/zuvorderst) ein Roman über das Schreiben, die Vielfalt der Erzähltechniken reicht vom kommentarlosen Stil des französischen Nouveau Roman bis zur überbordenden Bilderfülle des magischen Realismus, das Ganze gespickt mit zahlreichen mythischen & kulturellen Anspielungen und Anmerkungen; so ist ein „Roman in 3D“ entstanden, der erste seiner Art in der rumänischen Literatur der Gegenwart.

Entsprechend vielfältig sind die Herausforderungen, denen sich der Übersetzer gegenübersieht. Zum einen muss er den lebendig sprudelnden, beziehungsreichen Erzählfluss eines unmittelbar Betroffenen ins regulierte Bett der deutschen Sprache leiten, zum andern sowohl die rumänisch-moldauischen als auch die zeitgeschichtlich sowjetischen Zusammenhänge und Konnotationen für das Verständnis des deutschen Lesers so aufbereiten, dass sich zumindest die unvermeidbaren Verluste in Grenzen halten.

Emilian GALAICU-PĂUN wurde am 22. Juni 1964 in dem Dorf Unchiteşti, Gemeinde Cuhureştii de Sus, Bezirk Floreşti, Republik Moldau, in einer Intellektuellenfamilie geboren. Er schloß ein Studium der Sprach- und Literaturwissenschaften an der Staatlichen Universität Chişinău ab (1986) und promovierte am Literaturinstitut „M. Gorki“ in Moskau (1989). Mitglied des Schriftstellerverbandes der Moldau (1990) und Rumäniens (1998). Mitglied des PEN-Clubs. Für Bessarabien zuständiger Redakteur der Zeitschrift „Vatra“ (Târgu Mureş); Chefredakteur des Verlags Cartier; Autor und Moderator der Sendung Carte la pachet bei Radio Free Europe. Nationalpreis für Literatur (Republik Moldau, 2015); Nationalpreis für Lyrik „George Bacovia“ (Rumänien, 2019).

Ritter des Ehrenordens (Republik Moldau, 2012), Orden für Kulturelle Verdienste im Range eines Offiziers (Rumänien, 2014), Verdienstkreuz „Meritul heraldic” (Republik Moldau, 2020). Orden der Republik Moldau (die höchste Auszeichnung des Landes, 2025), Orden Chevalier des Arts et des Lettres (Franreich, 2025).

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